5.2.06

Lob der italienischen Untreue

Ich habe ja schon viele Bierverkostungen besucht und etliche davon selber geleitet – aber was ich gestern im Rahmen der Pianeta Birra in Rimini an Interesse und Offenheit erlebt habe, ist mir im deutschen Sprachraum noch nie untergekommen. Da sassen sechs Dutzend Vertreter der italienischen Bierwirtschaft, Gastronomen, Getränkefachgrosshändler und Journalisten und kosteten sich durch das breite Spektrum des Angebots exportorientierter amerikanischer Mittelstandsbrauereien – vom milden Export Ale der Shipyard Brewing Company in Maine (das aufgrund seiner raschen und schmeckbaren Alterung vielleicht nicht ganz fùr Export geeignet erscheint) über das gewürzte Winter Lager von Samuel Adams, das suesslich-vollmundige und aussergewöhnlich intensiv nach Kaffee schmeckende Milk Stout der Left Hand Brewing Company in Colorado bis hin zum 90 Minute IPA von Dogfish Head in Delaware.
Dieses Bier hat 90 Bittereinheiten und die Marketingverantwortlichen erzählen dazu, dass diesem Bier während 90 Minuten Sudzeit jede Minute etwas Hopfen (von der aggressiv bitteren US-Neuzüchtung Warrior) zugegeben wird. Dieses Bier entspricht (wie auch die anderen sieben) kaum dem, was sich ein "gelernter" Biertrinker (oder auch ein in Deutschland gelernter Brauer) unter Bier vorstellt, denn die neuen Biere aus der neuen Welt wenden sich nicht an jene, die mit dem alltäglichen Bierangebot ohnehin zufrieden sind. Wer tagtäglich "sein" Bier trinkt und dabei "seiner" Marke (ob das nun eine lokale oder eine globale ist, macht da keinen Unterschied) treu bleibt, kann mit Bieren, die anders schmecken, wenig anfangen. Wer auf einen Bierstil eingeschworen ist, tut sich mit anderen oft schwer: Ich kenne Pilstrinker, fùr die Weissbier "kein richtiges Bier" ist und umgekehrt – und ich erlebe diese Menschen sehr oft bei Verkostungen.
Nicht bei der in Rimini: Da waren mehr als 70 Kenner beisammen, die offen für ganz anderes Bier waren – und keines als a priori unverkäuflich einschätzten, sondern überlegten, wie und wo das eine oder andere Bier vermarktet werden könnte. Das 90 Minute IPA als Begleiter zu gegrilltem Schweinefleisch oder gar zu gewissen gegrillten Fischen (sicher nicht zu allen, da sich die Fette einiger Fische nicht mit der Hopfenbittere vertragen)? Das Milk-Stout vielleicht zur "Collazione", als "Frühstücksbier" in einer Kaffee-Bar?
Tatsächlich findet man selbst in kleinen italienischen Bars eine viel grössere Auswahl an Bierstilen als bei uns – mein italienischer Kollege Maurizio Maestrelli (Herausgeber des italienischen Bierguides "Birrerie d'Italia") mit der Untreue der italienischen Weintrinker, wenigstens der der jüngeren Generationen, erklàrt: Ein Weintrinker bleibe ja auch nicht einem Produzenten, einer Rebsorte und nicht einmal einer Region treu. Wer also Vielfalt gewohnt ist, ist auch offener für Neues. Deshalb bieten selbst die nicht auf Bier spezialisierten Bars meist ein internationales Lager (etwa Anheuser Busch B), ein italienischs Lager (Peroni), ein Ale (Kilkenny) und ein Stout (sehr oft das dànische Ceres) an. Und deutsches Bier – also das, was wir für "richtiges Bier" halten? Das ist in vielen Bars (noch) nicht vertreten – aber es hat sich in Rimini gut präsentiert (unter anderem mit einem bayerisch-bierigen Abendessen für italienische Getränkehändler). Die "Untreue" der Italiener bietet durchaus Chancen – wenn sich unsere Brauer interessant genug fùr einen "Seitensprung" machen.

Mehr über den italienischen Biermarkt auf www.mondobirra.org